Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz im Zwangsversteigerungsverfahren

Besteht durch eine Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Schuldnerin, kann die Zwangsvollstreckung in besonders gelagerten Einzelfällen ausgesetzt werden.

BverfG, Urteil vom 15.05.2019 – 2 BvR 2425/18

Sachverhalt:

Auf Antrag einer Gläubigerin wurde die Zwangsversteigerung des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks der Schuldnerin angeordnet. Der Versteigerungstermin wurde auf den 26.02.2018 bestimmt. Mit Schreiben vom 21.02.2018 beantragte die 53-jährige alleinstehende Schuldnerin Vollstreckungsschutz gem. § 765a) ZPO. Zur Begründung führte sie an, dass die Fortführung des Versteigerungsverfahrens ihre Gesundheit gefährde und ihr Leben akut. Sie führte auf, dass der mit dem Zuschlag verbundene Verlust ihres Hausgrundstückes zu einer unkontrollierbaren psychischen Überbelastung führe und Suizidhandlungen sehr wahrscheinlich mache. In einem eingeholten Sachverständigengutachten wurde festgestellt, dass der Verlust des Hauses geeignet sei eine lebensbeendende Handlung bei der Schuldnerin wahrscheinlich zu machen. Sofern die Schuldnerin mit ambulanten Hilfestellungen keine Fortschritte erzielen könne, sei eine vorübergehende stationäre Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu empfehlen.

Entscheidung:

Das BverfG entschied, dass die Schuldnerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG verletzt sei. Das Grundrecht verpflichte die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a) ZPO auch die Wertenscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Die Würdigung aller Umstände im Lichte der Grundrechte könne in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum oder gar auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Hierzu sei eine Abwägung zwischen den der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, der Erhaltung von Leben dienenden Interessen des Schuldners und den Interessen, denen die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll erforderlich. Auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden, wie ein psychiatrisches Krankenhaus, könne nur verwiesen werden, wenn diese Maßnahmen zum Schutz des Betroffenen getroffen worden seien oder aber eine erhebliche Suizidgefahr verneint worden sei. Im vorliegenden Fall sei zu beachten, dass die stationäre Unterbringung erst als zweiter Schritt nach einer ambulanten Behandlung empfohlen worden sei. Eine stationäre Behandlung gegen den Willen der Schuldnerin sei nach Gutachten erst dann zu empfehlen, wenn es der Schuldnerin nicht möglich sei, innerhalb von sechs Monaten entsprechende Fortschritte zu machen. Zudem genüge der alleinige Verweis auf die polizeirechtlichen oder betreuungsrechtlichen zuständigen Stellen nicht aus. Es müsse vielmehr sichergestellt werden, dass die geeigneten Maßnahmen getroffen worden seien.

Bedeutung für die Beratungspraxis:

Die Aussetzung der Zwangsvollstreckung kommt nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht. Insbesondere dann, wenn dies zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Schuldners unumgänglich ist. Hierfür haben auch die Vollstreckungsgerichte, vor dem Hintergrund der Schutzpflicht staatlicher Organe, die Grundrechte der Schuldner zu berücksichtigen und zu schützen. Trotz Suizidgefahr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung dann nicht notwendig, wenn diese Gefahr mit anderen geeigneten Mitteln abgewendet werden kann. Hierfür genügt der bloße Verweis auf andere Hilfseinrichtungen nicht aus. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass andere Hilfsmaßnahmen zum richtigen Zeitpunkt greifen.

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